Alexandra Petersamer:
1. DIE WANDLUNG TRISTANS
Auch mir erscheint hier im Dritten Aufzug Tristan sehr positiv – ganz entgegen dem Eindruck, den ich von ihm aus dem ersten Teil des Ersten Aufzugs habe, wo er mir regelrecht als Arschloch – na sagen wir als charakterlich doch sehr defizitär – vorkommt. Isolde führt ihn im Ersten Aufzug an der Stelle, wo sie in direkter Rede als Tristan singt (ab Vers 344 im Textbuch) als solchen vor: >>Wie siegprangend, / heil & her, / laut & hell / wies er auf mich: / „Das wär‘ ein Schatz, / mein Herr & Ohm; / wie dünkt euch die zur Eh‘? / Die schmucke Irin…“<<
Mit diesem Haßanfall (Sie nennen es in einem anderen Audio negativ „Zerstörungswut“, es ist aber etwas Positives, Konstruktives) löst sie seine Wandlung vom Arschloch zum positiven Menschen aus, die dann in dem Moment Fahrt aufnimmt, als Isolde ihn anbrüllt (ab Vers 600*): >>Wagst du mir zu höhnen?<<, nachdem er sie noch wie ein Arschloch gefragt hat, was denn so schlimm dran gewesen sei, daß sie Morold rächen will (>>Müht euch die?<<).
Tristans Wandlung vollzieht sich dann, als er „bleich & düster“ wird (ab Vers 624: >>War Morold dir so wert…<<). Er kapiert zwar immer noch nicht (oder tut zumindest so aus Abwehr gegen seine verdrängten Liebesgefühle), aber er kommt hier immerhin ZU SINNEN: er ist von ihrem Haßanfall in’s Emotionale gekommen – Voraussetzung fürs Kapieren und Einschmelzen der Abwehr.
Die Musik wird an dieser Stelle plötzlich auch ganz anders: dramatisch! Es ist der entscheidende Stimmungswechsel! Ja, im Grunde sagt Tristan jetzt mit den Worten >>War Morold dir so wert…<< nichts anderes als daß er sich VON IHR UNGEMINNT FÜHLT! Das muß man sich mal vorstellen! Bis dahin cool wie Abdul! – Und jetzt will er plötzlich Isoldes Liebe und fordert sie wie ein trotziges Kind auf, diesmal das Schwert nicht >>entfallen<< zu lassen!
Er hat gerade eine rasante Wandlung hingelegt – dank ihr, dank ihrer emotionalen Befreiung ab Vers 88: >>Luft! Luft! / Mir erstickt das Herz, / Öffne! Öffne dort weit!<<
Endgültig zur Raison – also zum Verstehen – kommt Tristan ab dem Vers 703, wiederum bzw. NOCH MEHR von Isolde in die Gefühle getrieben („wild auffahrend“: >>Los den Anker! Den Winden Segel & Mast!<<). Und zwar schafft Isolde es diesmal, indem sie ihren Haß NOCH STEIGERT (jetzt kaum noch mehr von Liebe zu unterscheiden) und den Hohn in direkter Rede retourniert: („mit leisem Hohn“: >>Geleitest du mich, / dünkt dich nicht lieb [wäre das nicht toll?], / darfst du ihm so sagen?: „Mein Herr & Ohm, / sieh die dir an!…“<<
Und ab dem Vers 713 bricht der Kern – die Tiefenperson Tristans – vollends durch und berührt mich tierisch! Ich muß jedesmal losheulen, wenn ich das höre oder lese: >>Tristans Ehre – / Höchste Treu‘ << („Meine Ehre heißt Treue.“)
– Jetzt wiederum kann Isolde mit Tristans tiefen Gefühlen nichts anfangen oder wehrt sie sich dagegen!: >>Betrug auch hier?<< Diesmal kapiert SIE nicht und kann dem Mann in seinen Gefühlen nicht folgen! (Das hat man ja öfters: Frauen fordern von Männern: „Zeig‘ mal Gefühle!“, aber wenn sie das dann tun, ist es ihnen auch nicht recht.) Statt sich in Liebe auf den reifgeschossenen Tristan zu stürzen, beschimpft sie ihn völlig deplaciert und höchst ungerecht noch als >>Verräter<<! – und nimmt auch den Scheidebecher!… Na ja, man kann von der Frau nicht erwarten, daß sie IMMER vorangeht.
2. AKTUELLE POLITIK
Ich finde Ihren Bezug zur aktuellen Politik sehr gut & schön!
3. NAHTOD UND WAGNERS LEBENSBEJAHUNG – DER ANTI-SCHOPENHAUER
Ja, es ist der Nahtod: das Eintauchen und die Auflösung in den Kosmos, das Vereinen mit dem Kosmos. Aber was ich jetzt absolut beachtlich finde und wiederum unter „extrem positiv“ verbuche, das ist: Normalerweise kehren die Leute ja höchst ungern aus dem Jenseits wieder ins Diesseits zurück, sie wollen nicht zurück ins Jammertal, sondern im Paradies bleiben. Tristan nun aber bejaht plötzlich den Tag! Das ist sensationell! Das ist das Bekenntnis Wagners zum Leben bzw. zur Lebensbejahung! Wagner sagt im Grunde: Das Leben, das Diesseits ist NOCH SCHÖNER als das Jenseits! Na ja, klar, er hat ja recht: Nur im Diesseits gibt es das Leben – auf der im All befindlichen Erde –, das kosmische Leben mit der Großen Liebe – das gibt es nicht im Tod, im Nicht-Sein, im sog. Jenseits. Wagner bekennt sich an dieser Stelle absolut zur Exoterik, zur Diesseitigkeit und zur Lebensbejahung! Das ist der eigentliche Hammer dieser „Handlung“! Ich glaube, das nimmt er im Parsifal wieder zurück – aber das werde ich noch (mit Ihrer Interpretationsassistenz) genauer untersuchen.
Natürlich kommt dann das Negative des „Tages“ wieder – all dessen unlösbare Konflikte, die zum Asiatischen und zu Schopenhauer hintreiben –, es bleibt ein Hin & Her. Aber das Bekenntnis zu Leben & Liebe hat er nun mal abgegeben.
Harry Kupfer, der im Jahre 2000 einmal mehr „Tristan & Isolde“ inszeniert hat, hat ja damals schon im Programmheft darauf hingewiesen, daß Wagners Schopenhauerei eine Mär ist: „Wagner nimmt von jedem Philosophen, den er gelesen hat, das, was er gerade braucht. Er war Feuerbachianer, und plötzlich fand er, daß er Schopenhauerianer werden mußte, und nun bringt er beide Systeme durcheinander. Es gibt die interessante Äußerung von ihm, er habe Schopenhauer durch Feuerbrach korrigiert. Das heißt also, daß der Heilsweg der Schopenhauer’schen Askese bei ihm durch die Liebe, die sexuelle, sinnliche, konkrete Liebe zwischen Menschen stattfindet. […] Feuerbach dominiert eindeutig, im Grunde hat es mit Schopenhauer nichts mehr zu tun. […] Er hat die Feuerbach’sche Leidenschaftlichkeit, die Verherrlichung der Sexualität gebraucht. Selbst Parsifal ist mit Schopenhauer nicht denkbar.“ Wagner hat sich gegen seinen im Knast sitzenden Anarchistenfreund August Röckel und damit gegen die Unterwindung von Feuerbach gewehrt, der ihm ganz sicher von Max Stirner erzählt hat.**
4. KURWENAL
Ja, Kurwenal war auch das volle Arschloch – und wandelt sich ebenfalls zum Positiven: vermittelt von Tristan, der seine Wandlung wiederum Isolde zu verdanken hat.
5. DUALSEELEN
Um das riesige Thema der „Dualseelen“ ganz kurz nur zu streifen: Ich vermisse bei Ihnen eine gewisse Unterscheidung: es gibt nämlich zwei verschiedene Arten von Dualseelen: die kindliche (später, im Falle von Deprivation, kindische) und die erwachsene Dualseligkeit. Ich habe neulich von einer Theorie gelesen, in der es um einen Zwilling oder um die Plazenta als eine Art zweiter Person im Uterus geht oder so… – Ich kann mich leider nicht mehr an diese Theorie erinnern, es ging jedenfalls um die embryonale Dualseligkeit. Eine andere Dualseligkeit ist die reife, erwachsene Dualseligkeit unter Beteiligung der Sexualität, die sicher eine Ähnlichkeit, eine Resonanz mit der ersten hat, aber von der unterschieden werden sollte.
6. WIE GEHT ES WEITER?
Ich lese wieder das Textbuch und höre wieder Gesang & Musik, aber im Augenblick verstehe ich nicht, warum sich Tristan umbringt bzw. warum Wagner ihn sich umbringen läßt; ich verstehe auch den Text überhaupt nicht: >>Mit blutender Wunde / bekämpft‘ ich einst Morolden, / mit blutender Wunde / erjag ich mir heut Isolden! (Er reißt sich den Verband der Wunde auf.)<< – Warum können beide nicht glücklich in „Koreal“ leben? Fühlen sie sich etwa noch vom „Tag“, von Marke & Hof, bedroht? Oder hängen sie in einer Embryonalitätsschleife?
– Aber im nächsten (oder übernächsten? – schön ausführlich!…) Video wird mich bestimmt geholfen…
Wer Alexandra Petersamer die Isolde singen hören möchte: Das sind die nächsten Termine in Duisburg: Sa 06.11.2021, 17:00, So 14.11.2021, 17:00 Uhr.
* Den Vers 619 verstehe ich übrigens nicht: >>der Isolden ihn abgewann.<< – Vergaloppiert sich hier der Grammatik-Akrobat?
** Mehr zur linksradikalen, emanzipatorischen Lesart Wagners in Teil 4 / III – Schopenhauer (statt Stirner) des Manifestes der Post-Musik: http://peter-post.net/post-musik/manifest/teil-4-vertiefende-darstellung-wagners-widerspruchlichkeit/
Pingback: Sich zur Lebens- und Liebesunfähigkeit bekennen. Mein Kommentar zu Alexandra Petersamers Interpretation des letzten Abschnittes des Dritten Aufzuges von Richard Wagners „Tristan & Isolde“ – Peter Töpfer – Blog