Sich zur Lebens- und Liebesunfähigkeit bekennen. Mein Kommentar zu Alexandra Petersamers Interpretation des letzten Abschnittes des Dritten Aufzuges von Richard Wagners „Tristan & Isolde“

Alexandra Petersamer

Ich hatte in meinem Kommentar zu Teil 1 Ihrer Interpretation des 3. Aktes „Tristan und Isolde“ geschrieben: „Im Augenblick verstehe ich nicht, warum sich Tristan am Ende umbringen wird bzw. warum Wagner ihn sich umbringen läßt.“ Ich fragte: „Warum können beide nicht glücklich in Kareol leben? Fühlen sie sich etwa noch vom ‚Tag‘, von Marke, Hof & Co. bedroht?“ Dann schrieb ich: „Aber im nächsten Audio [in Teil 3 Ihrer Interpretation des 3. Aktes] wird mich bestimmt geholfen…“

Nun, nein, nachdem ich den Teil 3 gehört habe – und sowieso auch das Textbuch gelesen habe –, ist es mir immer noch nicht verständlich.  

Sie sagen: „Er reißt den Verband ab… voller Kraft im Wissen darum, daß Isolde kommt… Das gibt ihm Kraft und Energie… Er fühlt das Blut in seinem Körper, im Fluß des Blutes aus der Wunde… Er kommt in Erfüllung, Vereinigung… Das setzt Kräfte und Energien frei… Er ist voller Tatendrang, will leben, wie die Liebe ausleben… Er ist stark, voller Stärke, Heldentum, Männlichkeit… Durch die aufblutende Wunde gewinnt er Isolde…“ 

Nun, das alles stimmt, das alles ist so, wie Sie es sagen, und ich stimme Ihnen in allem zu, nur… – das macht doch alles nur Sinn, wenn er am Leben bleibt! Worin ich Ihnen nicht zustimme im Gesagten, das ist, wo Sie vom „Fluß des Blutes aus der Wunde“ sprechen. Daß er – übertragen – „das Blut“ fühlt, also das Leben, seine Liebe und Lebendigkeit – das ist ja völlig richtig! Aber wieso fließt gerade dieses Blut ab? Er verliert es doch! Er verliert also doch gerade sein Leben und damit seine Liebe! Wenn ich das Leben und die Liebe feiere und alles „auskoste und genieße“ (zu schwache Wörter) – wie kann ich es dann im gleichen Augenblick wegwerfen? Dieser Widerspruch ist doch absolut eklatant und überhaupt nicht zu übersehen oder zu leugnen! 

Wofür ich Sie bisher so gelobt habe, nämlich die irdisch-diesseitige Interpretation Wagners – die Bezogenheit auf das echte Leben, die Lebensbejahung –, das lassen Sie hier sausen und heben stattdessen ab ins Jenseitige, Esoterische und Spirituelle. Mir ist schon in Ihrer Interpretation des 2. Aktes etwas seltsam aufgefallen, wie Sie davon sprechen, daß Tristan und Isolde in ihrer Liebe „abheben“. Nun, ok, das kann ich noch nachvollziehen, das ist sicherlich nicht falsch angesichts dieser Gefühle. Aber nun, im 3. Akt, bekommt dieses Wort „abheben“ einen Sinn, der eben nicht mehr lebens- und liebesbejahend ist. 

Auf der anderen Seite sprechen Sie aber von „soul sex“, und damit geben Sie ja zu erkennen, wie ernst und diesseitig Sie es meinen; man merkt, wie Sie einerseits im echten Leben stehen. Aber andererseits reißen Sie dann doch alles wieder ein, indem Sie das Leben und die Liebe ANGESICHTS DES TODES so sehr feiern! Das paßt doch nicht zusammen! Einerseits diese Diesseitigkeit (bei der meinetwegen auch „abgehoben“ werden kann, ok) und diese glasklare Lebens- und Liebesbejahung, aber dann wiederum die Tatsache, daß Ihnen gar nicht aufzufallen scheint, daß sie das Leben angesichts der Tatsache feiern, daß es gerade weggegeben wird und verloren geht.

Ich verstehe Sie da nicht bzw. kann Ihrer Interpretation nicht folgen. Ich sage das so ausdrücklich, weil ich ja so gespannt und neugierig gewesen war vor dem Hören dieses 3. Teils Ihrer Interpretation des 3. Aktes. Ich will nicht sagen, daß ich enttäuscht war – das nicht –, nur daß ich beim Hören bestätigt wurde in meinen Fragen bzw. in meiner Ratlosigkeit und in meinem Unverständnis. 

Warum Wagner das so geschrieben hat, kann ich mir nur so erklären: Er wußte ganz genau, worum es im Leben geht, aber er konnte es nicht umsetzen, konnte es nicht leben. Er konnte sich nie wirklich auf die Seite des Lebens und der Liebe stellen und sich ganz dafür entscheiden. Er lebte in einem schrecklichen Zwiespalt. Das ist jetzt nicht wirklich überraschend, das trifft ja bestimmt auf die meisten von uns zu. Aber sollte man sich dann nicht zu dieser Unfähigkeit, das Leben zu leben, und zu dieser Angst vor dem Leben einfach bekennen anstatt eine „Lösung“ in der Esoterik zu suchen? 

Was ich hier sage, das trifft natürlich dann auch auf das zu, was nach Tristans Freitod in diesem 3. Akt geschieht, nämlich den sog. Liebestod. Ich brauche hier keine Eulen nach Athen tragen und darauf hinweisen, daß Wagner dieses Ende der Handlung nicht als Liebestod bezeichnet hat, sondern als „Verklärung“ oder so ähnlich. Und das trifft die Sache schon viel besser: erstens hat das, was Isolde dort tut, eben nicht viel mit dem Tod zu tun – ganz im Gegenteil!, es ist das Auskosten der Liebe, und das beschreiben Sie ja auch so gut. Und zweitens erfolgt eine Transzendierung des Verlustes (anstatt einer Verschmerzung). Aber eigentlich ist der sog. Liebestod eine einzige Feier des Lebens und der Liebe – also des Liebeslebens. Es ist alles absolut und in musikalisch nie gekannter Tiefe und Weise – auch vom Text her – bejahend! Ohne jede Einschränkung! Es ist die definitive und ultimative, restlos erschöpfende und unumkehrbar eindeutige Lebensbejahung. Auch daß Isolde „wie verklärt sanft in Brangänes Armen auf Tristans Leiche sinkt“, ist kein Widerspruch zu dieser Ekstase der Lebendigkeit und des Liebens – was soll sie denn auch sonst machen? Aber daß Wagner sie sterben läßt, das ist zwar angesichts des erlittenen Verlustes durch Tristans Selbstmord sehr nachvollziehbar, aber entbehrt trotzdem ein bißchen der Logik, und streng genommen läßt sie Wagner auch gar nicht sterben: es steht nirgends im Textbuch, daß Isolde stirbt.

Sie sagen, daß Isolde aus Cornwall nach Kareol kam, „um mit Tristan zu sterben“. Das glaube ich nicht, wenn ich das Drama mal für das Leben nehme – was man bei Wagner-Werken immer geneigt ist zu tun –, aber selbst im Kunstwerk hat es für mich keine Logik: Isolde ist viel weniger ambivalent und eindeutiger in ihrer Lebensbejahung als Tristan, und entsprechend kommt sie über den Ärmelkanal angejubelt. In Wagners Textbuch ist auch nichts von einem Tod Isoldes die Rede, es heißt lediglich, daß „Marke die Leichen segnet“. Das kann sich ja auf Tristan, Kurwenal und Melot beziehen. Sie sagen, daß Tristan und Isolde „seelenverbunden“ in den Tod gehen; dem sei „nichts mehr hinzuzufügen“, das müsse „jetzt jeder verstanden haben“. – Ich verstehe das nicht! 

In der Tat gehen die meisten einfach davon aus – durchaus verständlich –, daß Isolde stirbt. Aber so steht es jedenfalls nicht im Textbuch. Und die Musik spricht ja auch eine ganz andere, nämlich kosmisch-lebendig-ekstatische Sprache – höchstens in den letzten Takten nicht mehr, aber dieses Entrücken in hohe Töne kann ja auch einfach nur eine Beruhigung bedeuten und nicht den Tod. Aber Wagner wird es mit „Verklärung“ sicherlich tatsächlich auch so gemeint haben: ein Abheben vom Leben und des Lebens Transzendierung. Was hätte er auch anders machen sollen? Na klar war ihm bewußt, daß zumindest ihm zu seinen Lebzeiten der Weg in das totale, vollständig bejahte Leben versperrt war. Aber Sie, Frau Petersamer, sprechen so oft davon, daß das eben zu Wagners Zeit so war, daß das damals nicht anders ging – daß wir aber heute die Chance haben, das zu schaffen. Nun, ich habe auf diese Ihre Äußerungen immer skeptisch reagiert; ich weiß, daß ich das auch nicht schaffe. Aber muß ich deswegen in eine Verklärung dieser Tatsache einstimmen? Nein. Wie ich oben schon sagte: besser ist, sich zu dieser Unfähigkeit zu bekennen. 

Weiterführende Arbeit:  
Vom „Reinmenschlichen“ zum „Wahrsager“. Kunst heute in der Nachfolge von Richard Wagner. Die Post-Musik vor dem Hintergrund Richard Wagners Theorien 
 

Nachtrag vom 7. November 2021: 

Ich habe mir noch einmal alles angehört und gelesen und muß mich korrigieren, und zwar bezüglich meiner Aussage, „Sie [Frau Petersamer] sagen, daß Isolde aus Cornwall nach Kareol kam, ‚um mit Tristan zu sterben‘. Das glaube ich nicht.“

Was ich glaube oder nicht, spielt ja keine Rolle. Die Frage war ja, wer leben und wer sterben will, wer am Ende tatsächlich stirbt und wer nicht. Tristan schwankt hin und her zwischen Leben- & Lieben-Wollen und Sterben-Wollen, zwischen Liebes- und Todes-Sehnsucht. Er feiert die Liebe – um dann aber doch den Liebestrank zu verfluchen. Von diesem Trank heißt es dann wieder, daß er selbst ihn gebraut, d.h. daß die Liebe ihm ur-eigen ist. – Das geht hin & her, er ist in einem tiefen, unlösbaren Konflikt zwischen Liebe und Liebes-Qual. 

Nach dem Verfluchen der Liebe fällt er in Ohnmacht, lebt aber noch. Dann kommt er wieder zu Bewußtsein, nimmt aber das Verfluchen eindeutig zurück und sehnt sich nach dem Schiff, sehnt Isolde zärtlich her und wird dann sogar höchst ungeduldig. 

Dann kommt Isolde mit dem Schiff an: Tristan bricht in Freude und Jubel aus, er fühlt Liebeslust, befindet sich im Modus der Liebes- und Lebensbejahung, des Anti-Tods. Seinen Sehnen nach Einheit mit sich und nach Beendigung der Schizophrenie ist jetzt kurz vor der Erfüllung. Man erinnert sich hier an den Zweiten Aufzug, ab Vers 1244, wo der Durchbruch zur Lebensbejahung so gut wie vollzogen war: „In des Tages eitlem Wähnen / bleibt ihm ein einzig Sehnen / das Sehnen hin zur heiligen Nacht, / wo ur-ewig, /einzig wahr, / Liebes-Wonne ihm lacht“, wonach sich beide gemeinsam mit der Nacht der Liebe herniedersinkten…  

Doch dann – urplötzlich – kippt alles wieder in Gegenteil um! Zuerst denkt man noch, er meint mit dem Vers „Mein Blut, lustig nun fließe!“ das Liebeswallen seines Blutes, aber wenn es fließt, muß diese Interpretation ja falsch sein. Aber seine Wunde soll ja gerade von Isolde geschlossen werden! Doch dann wieder soll das Schließen der Wunde „für ewig“ geschehen: das kann bedeuten „bis zum Ende meiner Tage“, aber man fühlt, wie er es meint: nicht als Heilung; es bedeutet: kein Weiterleben.

Der Wechsel der Extreme geht also lustig weiter. Das auch im nächsten Schritt der Handlung, wenn Isolde ankommt: dann stürzen sie aufeinander, Tristan sinkt in ihre Arme – um aber zu sterben!, ohne nicht noch ein letzten zart-liebevolles „Isolde!“ auszuhauchen.

Das heißt, in Tristan verschmilzen die ganze Zeit Liebe und die Erlösung durch den Tod: Lebens- & Todesbejahung. Man meint, er will nur lieben und leben – aber eigentlich spricht er die ganze Zeit vom Sterben. Er sieht seine Erlösung in der Liebe, aber gleichzeitig in der Beendigung der Liebe, die für ihn nur eine Liebes-Qual ist. Die Todesbejahung obsiegt aber am Ende: er selbst reißt sich ja den Verband vom Leibe.

Tristan ist tot, Isoldes Trauer ist unermeßlich. Jetzt sagt sie tatsächlich – da muß ich mich wieder korrigieren –, daß sie nur gekommen ist, um mit ihm zu sterben. Ich frage mich aber: Wieso? Ich finde das nicht logisch. Bei ihr haben wir es ja nicht mit dieser Ambivalenz aus Lebens- & Todesbejahung zu tun. Man könnte vermuten, daß sie sie das nur sagt, weil sie Tristans Leiche vor sich hat und weil die Liebe also sowieso nicht mehr möglich ist.

Dann sagt sie, daß sie ein „letztes Weltenglück“ erleben wollte, als sie sich von Kurwenal nach Kareol einladen lassen hat. Das war ein vergeblicher Wunsch. Warum aber „letztes“? Sie scheint schon geahnt zu haben, daß die Bedingung dafür – nämlich Tristans Überleben – wegfällt; sie kannte ihren Pappenheimer.

Und Isolde sagt auch wirklich – das hatte ich ebenfalls übersehen –, sie hätte ihn nur heilen wollen – um mit ihm gemeinsam sterben zu können. Und tatsächlich zeigt Isolde schon im Zweiten Aufzug, wie todessehnsüchtig auch sie ist: „Laß mich sterben! Laß den Tag dem Tode weichen!“ In dem Moment fällt sie über seiner Leiche in Ohmnacht.

Es hätte Wagner gut zu Gesichte gestanden, wenn er Isolde konsequenter in der Lebensbejahung gelassen hätte. Oder soll ihr Pessimismus nur die Einsicht in die Unmöglichkeit der gemeinsamen Liebe sein (die Tristans Lebensunfähigkeit geschuldet ist)?

Dann erwacht Isolde wieder aus der Ohnmacht und ist zunächst noch betäubt und in einer Art Teilnahmslosigkeit. 

Doch dann kommt die nächste Wende: ihre Lebens- und Liebeskraft meldet sich wieder und sie singt ekstatisch das Liebeslob Tristans – also noch einmal eine eindeutige Lebensbejahung. 

Am Ende des Liebeslobes nun im Dritten Aufzug „sinkt sie wie verklärt sanft in Brangänes Armen auf Tristans Leiche“. Es steht nicht geschrieben, daß sie stirbt, aber man darf vielleicht annehmen, daß sie zu den Leichen gehört, die Marke segnet, weil sie ja offensichtlich – und deswegen meine nachträgliche Korrektur – selbst schon drüben in Cornwall mit dem Leben abgeschlossen hat (nur nach Kareol kam, um mit Tristan zu sterben, und die Heilung nur zum dem Zwecke stattfinden sollte, daß sie mit Tristan gemeinsam sterben kann). Daß ich das übersehen habe, lag wohl in einer zu optimistisch-lebensbejahenden Lesart Wagners. Warum nur fragt Tristan am Ende des Zweiten Aufzugs Isolde aber auch nicht, ob sie ihm nach Kareol folgt anstatt nach dem „Land, dem der Sonne Licht nicht scheint“? Die Musik klingt doch so forsch, selbstbewußt und bejahend zu „das bietet dir Tristan, / da hin geht er voran“! Das müßte doch Kareol sein! Und Isolde antwortet ja auch prompt darauf, daß – anders als bei der Werbung für ein „fremdes Land“ – sie ihm „in dein Eigen“ folgt. Und daß das nicht „das dunkel nächt’ge Land“ ist, dafür spricht doch die Musik, die – wenn ich mich nicht täusche – dem Kareol-Motiv stark ähnelt. Aber eben nur ähnelt…

Das ekstatische Liebeslob war wohl nur ein letztes Aufflackern; sie – bzw. Wagner – wollte sich nicht vom Leben verabschieden, ohne das noch mal erschöpfend auszusprechen.

 

 

 

 

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